Sentimentale Sieger
Selten zuvor hat man harte Männer so oft weinen gesehen! Jonas Vingegaard, Sieger der Tour de France 2022, vergoss schon bei der Teampräsentation in Kopenhagen angesichts der enormen Begeisterung der Fans einige Tränen. Der sympathische Däne empfand es als außergewöhnliche Ehre, neben Primoz Roglic als zweiter Kapitän im Team Jumbo-Visma antreten zu dürfen.
Der 25-jährige Däne, der noch vier Jahre zuvor in einer Fischfabrik gearbeitet hatte, kam als spätberufener Rennfahrer der Extraklasse in diese Mannschaft. Dabei hat sich Jonas Vingegaard als Gesamt-Zweiter der Tour de France 2021 diesen Platz selbst mehr als verdient. Der Auftritt von Jumbo-Visma bei der Tour 2022 war dann drei Wochen lang höchst beeindruckend.
Aus meiner Sicht haben die Leistung und der Spirit in der Mannschaft zugunsten von Vingegaard entschieden. Tadej Pogacar (UAE Team Emirates), Sieger der beiden letzten Frankreich-Rundfahrten, war auch heuer ein sehr harter Gegner. Dem 23-jährigen Alleskönner aus Slowenien, immer ungewöhnlich locker und scheinbar stressfrei, konnte man einen dritten Triumph durchaus zutrauen. Das Team Jumbo-Visma hat allerdings das richtige Rezept zum Toursieg gefunden, Teamplayer Jonas Vingegaard als stärkster Mann in den Bergen überzeugend vollendet. Mit einer überaus offensiven Fahrweise vom Anfang bis zum Ende jeder Etappe hat man Pogacar müde gemacht. Und Vingegaard, der stets auf Augenhöhe mit Pogacar war, hat seine Chance für seinen ersten Tour-Sieg genützt. Die 11. Etappe mit Start in Albertville und Ziel am Col du Granon Serre Chevalier (Bergankunft auf 2.413 m Seehöhe) brachte die Vorentscheidung: Als Vingegaard fünf Kilometer vor dem Ziel attackierte, konnte Pogacar nicht mehr folgen und verlor dort fast drei Minuten auf den Dänen – letztlich die ausschlaggebende Zeit.
Wout van Aert, dreifacher Querfeldein-Weltmeister, war bei dieser Tour der allseits präsente Schrittmacher und wertvollste Helfer im Team Jumbo-Visma. Der brillant fahrende Belgier sorgte immer für das richtige Tempo und die passenden Positionen, führte seine Kollegen mit feinster Präzision durch schwierigste Situationen und anspruchsvollste Abfahrten, gewann selbst drei Etappen und in souveräner Manier das Grüne Trikot des besten Sprinters. Nach dem Doppelsieg beim Zeitfahren am vorletzten Tag fand er auffallend emotionale Worte für seinen Teamkollegen Jonas Vingegaard und dessen de facto feststehenden Tour-Sieg, betonte mit bewegter Stimme das freundschaftliche Verhältnis in der Mannschaft. Nach der Ankunft in Paris werden beim Feiern wohl nicht nur der Champagner, sondern erneut einige Tränen fließen.
Text: Andy Blümel
Foto: A.S.O. / Charly Lopez